Ulrike

„Das ist ja nicht so gut…“

Ulrike schmiert einen Klecks Honig vom ihrem Zeigefinger auf ihr Salami-Toast, da er ihr sonst unweigerlich auf die nackten Oberschenkel getropft wäre.
Ich lehne mit dem Rücken am Sturz meines Küchenfensters und habe die Arme vor der Brust verschränkt.
So schräg hinter ihr kann ich sie im Halbprofil betrachten, ohne direkt Augenkontakt halten zu müssen.

Ulrike dreht beim Sprechen ihren Kopf leicht nach hinten zu mir. Dabei streicht sie sich die langen blonden Pony-Strähnen hinter ihr rechtes Ohr und ich kann ihr Gesicht erkennen.
Während sie ihr Frühstück bereitet und Honig für ihren Tee eben direkt mit dem Finger aus dem Glas löffelt, fällt ihre wirklich beachtliche Mähne immer wie ein Vorhang vor ihren Aktionsradius.
Wahrscheinlich aus Angst, dass sich ihre Haare im Honig verfangen könnten, der sozusagen daumendick ihren Zeigefinger bedeckt, wirft sie ihren Kopf mit einem Ruck nach hinten und ihre Haarspitzen streifen tatsächlich meine Arme.

Hübsch ist sie, wie sie da so sitzt. Sie lässt einen dicken Klecks Honig in ihre Tasse tropfen, leckt den Finger ab und tunkt ihn erneut ins Glas.
Das Spiel beginnt von vorn. Tropfen, ablecken, Tropfen. Vor ihr liegt ein Salami-Toast, dass schon über und über mit Honig bekleckert ist.

Was aast die eigentlich so mit meinem Honig rum?
Und wer hat ihr eigentlich erlaubt, den für ihren Tee zu nehmen? Und wieso nimmt sie überhaupt meinen Tee? Beides ist schließlich meine eiserne Reserve für fiese Wintertage, als Schutz vor der Männergrippe. Medizin also. Wer, bitteschön, frühstückt Medizin? Ist sie etwa ein Junkie? Dann kann sie sich ja gleich einen Schuss setzen, direkt hier in meiner Küche.

Mein Gott, warum ist mir das denn gestern nicht aufgefallen? Gut, da war ich vielleicht ein wenig abgelenkt von ihrem tief ausgeschnittenen Oberteil und ihrer ausgelassenen Art, als sie mit ihren Freunden an dem vorderen Tisch in dieser Bar in Kreuzberg saß.
Ausbildungstreffen, wie sich später herausstellte.
Als sich ihre lustige Runde etwas lichtete und mein Kumpel mangels Stehvermögen den Heimweg antrat, gesellte ich mich zu ihr.
Wir haben uns gut unterhalten. Viel gelacht und so. Die wirklich ausgezeichneten Cocktails taten ihr übriges und da lag es viel viel später auch nahe, dass man sich ein Taxi teilen könnte.

Meine Adresse war der erste Stopp auf der Tour und Ulrike wollte einfach nicht glauben, dass es noch Wohnungen mit Außentoilette in Berlin gibt. Die bewohnt sind. So kam sie noch mit zu mir.

Völlig normal schien sie mir. Ok, sie war wirklich sehr ausgelassen. Und anschmiegsam. Hatte sich wohl vor kurzen von ihrem Freund getrennt und hat das Ausbildungstreffen genutzt, um mal wieder so richtig die Sau rauszulassen. Und das ist ihr sehr gut gelungen. Das kann ich bestätigen.

Vielleicht ist ihrem Freund auch aufgefallen, dass irgendwas nicht stimmt? Das Ulrike Hilfe braucht? Aber dann trennt man sich doch nicht. Da muss man als anständiger Mensch und Partner Beistand leisten. Die Sache gemeinsam durchstehen. Einfach so das Handtuch werfen… was für ein Arsch!

Ich versuche, Einstichstellen an Ulrikes Armen zu entdecken, kann aber beim besten Willen nichts erkennen. Auch ihre Haut ist völlig normal. Seidig und in der Sonne schimmern die kleinen Härchen silbrig.

Wahrscheinlich schluckt sie eine dieser neuen Designerdrogen aus Osteuropa. Die Nebenwirkungen sind ja heutzutage schwer zu erkennen. So als Laie siehst du die wahrscheinlich über Jahre hinweg nicht. Da leben die Betroffenen mitten unter uns und du erkennst sie nicht. Die wirken wie du und ich. Könnte zum Beispiel auch der Busfahrer sein, die Kassiererin, Lehrer, Polizisten… und dann passieren schreckliche Dinge.

Weil sie nicht erkannt werden. Weil immer alle das Handtuch werfen, Beziehungen auflösen und nicht auf ihre Mitmenschen achten. Weil alle so scheiß-egoistisch sind. Und das treibt dann natürlich die empfindsameren Geschöpfe in die Arme der osteuropäischen Drogenmafia. Ein Teufelskreis.

„Wie ging es denn dann weiter?“
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ulrike schaut mich mit ihren großen Augen erwartungsvoll an und steckt sich den Zeigefinger voll Honig in den Mund.

„Ich glaube, du solltest jetzt zu deinem Freund fahren“.
Mit einem Ploppgeräusch verlässt der Zeigefinger den Mund der sichtlich verdutzten Ulrike.

„Warum das denn?“
Ich bin ins Schlafzimmer gegangen, sammle ihre wenigen Kleidungsstücke zusammen und drücke sie Ulrike, die mir gefolgt war, in die Hand. Sanft aber bestimmt schiebe ich sie zur Wohnungstür.

„Lass dir helfen, Ulrike! Gib dich nicht auf!“ sage ich leise und schließe die Tür.
Armes Ding…