Der allerletzte Zug

Es ist kalt in dieser Januarnacht.
Kaum jemand auf der Straße, bei der schneidenden Kälte.
Wer es doch sein muss, drückt sein Gesicht tief in Schal oder Mantel und wünscht sich an einen anderen Ort.
Die Laternen in der kleinen Straße auf der Rückseite des Bahnhofes in einem Randbezirk von Berlin tauchen die Szene in unwirkliches Licht. Die Fassaden, die Autos, der Bahnhofseingang, alles wirkt wie die düstere Filmkulisse in einem Thriller. Durch den leichten, jedoch stetigen Schneefall, ist die Sichtweite auf wenige Meter begrenzt. Man kann maximal bis zur zweiten Laterne schauen, doch man versteckt den Großteil des Gesichts sowieso lieber, um der Kälte keine Angriffsfläche zu bieten.

In einer dunklen Ecke, nahe dem Verteilerkasten unweit vom Eingang zum Bahnhof, bewegt sich etwas.
Die Baulücke ist mit einem provisorischen Maschendrahtzaun abgesichtert, ein paar Bretterhaufen und ein Stapel Paletten sind dahinter.
Dazwischen steht, im Schatten verborgen, ein Mann.
Die schwarze Wollmütze ist bis über die Augenbrauen gezogen, der dunkelblaue Wollschal bedeckt alles ab der Nasenspitze. Der hochgeschlagene Kragen des schwarzen Filzmantels bietet Schutz zur Seite und im Nacken. Der Mann trägt an seiner linken Hand einen schwarzen Lederhandschuh, die rechte Hand ist unbekleidet und hält eine halb runtergebrannte Zigarette. Zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, versucht der Mann den Schein der Zigarettenglut in der hohlen Hand zu verbergen. Wenn er einen Zug nimmt, hält er auch die Lederhandschuhhand als Abschirmung vor den verräterischen Schein. Zu seinen Füßen könnte man, wenn es nicht zu dunkel wäre, mehrere Zigarettenstummel erkennen.

Ein Husten ist zu hören.
Der Mann zuckt zusammen und drückt sich wieder tiefer in den Schatten, dicht an den Palettenstapel. Die Zigarette hält er jetzt in seinem Schoß und versucht die Glut vollständig zu bedecken. Da er aus dieser Position nichts sehen kann, versucht er zu erahnen, woher das Geräusch kam, sorgsam darauf bedacht, selbst nicht entdeckt zu werden. Im Schein der Straßenlaterne hinter einem Auto kann man eine stapfende Gestalt erkennen. Von Größe und Statur scheint es sich ebenfalls um einen Mann zu handeln, die Hände in die Taschen seiner dicken Winterjacke gestopft, den Blick auf die schneebedeckten Stiefel gerichtet. Der Atem steigt als grauer Nebel in die eiskalte Luft auf. Der Mann bewegt sich auf das Palettenversteck zu.

Als die Person die Baulücke erreicht, hält der Mann im Schatten für einen Moment die Luft an.
Jetzt nur nicht entdeckt werden. Wenn er jetzt auffliegt, ist alles vorbei.
Die Situation ist ihm nicht neu. Es ändern sich eigentlich nur die Gegenden. Der Rest bleibt Jahr für Jahr gleich.
Dabei ist das neue Jahr gerade einmal sieben Tage alt.
Für den Mann im Dunkeln geht es um viel.
Es geht um Ehre, um sein Wort. Und natürlich um Geld.
Es geht letztendlich immer um Geld und der Mann ärgert sich, dass er auch diesmal so unvorsichtig war.

Der andere Mann hat die Baulücke passiert und die Person im Dunkeln nicht bemerkt. Er stapft weiter durch den Schnee und ist schon nach wenigen Augenblicken aus dem Schein der zweiten Laterne von der tiefschwarzen Nacht verschlungen worden. Der Mann in der Baulücke atmet erleichtert auf.
Er nestelt mit der freien Hand nach einer weiteren Zigarette in seiner Manteltasche. Vorsichtig streckt er den Kopf aus seinem Versteck und blickt zum Bahnhofseingang. Niemand ist zu sehen. Der Eingang ist in gelbliches Licht getaucht, vor dem die kleinen Schneeflocken tanzen.
Vor ungefähr zwanzig Minuten ist er selbst aus diesem Eingang getreten und hat sich dann dieses Versteck gesucht.  Gleich wird der letzte Zug für diese Nacht einfahren. Sein Zeitfenster ist nur noch kurz.

Den ganzen Tag hatte er auf eine passende Gelegenheit gewartet, hat Optionen ausgespäht, seine taktischen Geschicke ausgespielt, jedoch vergebens. Es ergab sich einfach keine Gelegenheit. Nie war er wirklich sicher, nicht doch entdeckt zu werden. Und das konnte er sich einfach nicht erlauben.
Aber der Druck wuchs. Dieser verdammte Druck.
Er wurde immer nervöser, je näher der Abend rückte. Obwohl die Situation für ihn auch nicht neu ist. Eigentlich sogar Routine. Und doch ist es jedesmal ein Kampf. Aber dafür geht es eben auch um zu viel.

Sein Plan ist eigentlich perfekt.
Er hat bei dieser bitteren Kälte ungefähr zwanzig Minuten in seinem Versteck ausgeharrt. Wenn der letzte Zug, der jeden Moment kommen müsste, den Bahnhof wieder verlassen hat, wird er versuchen unerkannt auf die andere Seite zum Eingang zu kommen. Und dann wird er so tun, als wäre er gerade mit dem letzen Zug angekommen. Er wird ganz normal über die Straße laufen und auf den Hauseingang neben der Baulücke zusteuern.
Niemand wird vermuten, dass er sich bereits seit zwanzig Minuten hier aufhält.
Niemand wird ihm auf die Schliche kommen.
Niemand sein Geheimnis lüften.
Und für einen weiteren Tag wird niemand an seiner Ehre und seinem Wort zweifeln. Ganz zu schweigen davon, dass die Sache mit dem Geld aufgeschoben wäre. Dann könnte er beruhigt schlafen gehen. Nein, vorher ein schönes heißes Bad nehmen und die gefrorenen Glieder aufwärmen. Er könnte sich dann die Taktik für den morgigen Tag überlegen. Vielleicht gelingt es ihm ja morgen, für ein paar Minuten unbehelligt…

Etwas oberhalb der Baulücke ertönt das Geräusch eines sich öffnenden Fensters.
Der Mann im Schatten duckt sich hinter den Bretterhaufen. Angespannt lauscht er in die eisige Nacht.

„Wie lange willst du denn da jetzt noch rumstehen? Du holst dir noch den Tod! Komm hoch jetzt, ich hab dich vorhin schon gesehen, als du aus dem Bahnhof gekommen bist…“
Der Mann macht sich ganz klein. So klein er nur kann.
„Jens, mach dich nicht lächerlich! Komm hoch jetzt, ich hab Essen gemacht! Und ich hab schon längst gesehen, dass du geraucht hast! Ich habs auf dem Handy aufgenommen, die 250,00 Euro bist du jetzt los! Hättest Silvester halt einfach nicht wetten sollen, dass du es dieses Jahr schaffst aufzuhören! Komm jetzt, es ist kalt!“