Anne II

„Das ist ja nicht so gut…“

Anne sitzt im Schneidersitz auf dem Küchenstuhl vor dem Tisch und dreht sich eine Zigarette.
Während sie mit geübten Fingern den Tabak im Blättchen zu einer kleinen Wurst rollt, fällt ihr eine Strähne ins Gesicht, die sie rasch wegstreicht ohne sich beim Drehen stören zu lassen.

Ich stehe am Küchenfester und sehe ihr zu.
Trotz der ziemlich kurzen Nacht, beziehungsweise der ziemlich langen Nacht in der üblichen Bar, sieht Anne ausgesprochen frisch aus.
Ich kann im Augenwinkel zwar etwas mein Spiegelbild in der Fensterscheibe erkennen, nehme aber an, dass ich im kalten Schein der Küchenrealität wesentlich zerstörter aussehe. Aber gut, hier ist ja auch kein Schönheitswettbewerb. Wenn sie etwas fürs Auge haben wollte, dann hätte sie gestern ja auch mit Tom nach Hause gehen können. Ist sie aber nicht. Und hier gibt es nichts anderes.
Ja, sicherlich könnte ich mal kurz im Bad verschwinden und mich etwas zurecht machen, aber erstens tut mir dafür der Kopf zu weh und zweitens inklusive drittens habe ich dazu weder Lust noch Verständnis.

Kann ja nicht sein, dass von mir früh morgens um 13:00 Uhr schon verlangt wird, eine Mischung aus Brad Pitt, Antonio Banderas und Richard Chamberlain zu sein. Obwohl, letzterer war zwar Frauenschwarm, dafür aber schwul. Wahrscheinlich hatte der Shogun erkannt wie schwer es ist, permanent ein Idealbild abzugeben. Mag sein, der Vergleich hat an dieser Stelle einen eher schlurfenden Gang, trotzdem: ich kann morgens maximal ein übergewichtiges Calvin-Klein-Model darstellen, quasi den fiktiven Sohn von Dirk Bach und Olga Sherer. Bin ich deshalb morgens weniger liebenswert?

Anne hat es gut.
Sitzt da, dreht ihr Kippchen und ist einfach Frau. Sogar in meinem verwaschenen Hemd wirkt sie irgendwie sexy. Ich dagegen habe heute Morgen eher die Erotik von frisch Erbrochenem. Wahrscheinlich fragt sie sich sowieso gerade, wie betrunken sie gestern gewesen sein muss, um mit zu mir zu kommen.
Oder sie denkt an Schuhe.
Mist, jetzt denke ich doch glatt in den gleichen Klischees. Und das ist dann auch die Wurzel allen Übels. Es gibt keine klaren Signale, was eine Frau gerade von einem Mann erwartet.

Liest man in einschlägigen Foren im Internet nach, dann ist der geheimnisvolle, vielleicht sogar etwas gefährliche Typ das, was sich Frauen für atemberaubende Abenteuer vorstellen können.
Ein Kerl wie Daniel Craig, mit eisblauem Blick, der jeden Widerstand des von ihm begehrten Objekts dahinschmelzen lässt.
Ein durchtrainierter Mann, der einfach nimmt; wann, wo und wie es ihm passt.
Ein Womanizer mit einem Gesicht, kantig wie der Dodge Charger.
Und kaum hat man sich als Mann an diesen Typus gewöhnt und festgestellt, dass der Kerl tatsächlich was hat, bleibt der Blick der weiblichen Begleitung an einem Plakat von Charlie Puth oder Shawn Mendes kleben.
Oder an den verbliebenen Bildern von Justin Bieber.

Wie, denken denn die Frauen, soll ein Mann damit umgehen?
Da rennt man los, kauft sich stylische Hemden und lässt sich einen Drei-Tage-Bart stehen, versucht verwegen und gefährlich zu wirken, um zwei Minuten später zu realisieren, dass die Angebetete im Kuschelmodus und deshalb nun Tom-Welling-Zeit ist.
Wobei sich die meisten dieser Kuschelweich-Typen mittlerweile ja auch alle verwegene Drei-Tage-Bärte stehen lassen. Wahrscheinlich haben sie die gleichen Probleme wie wir Normalos. Vielleicht ist so eine Lättafresse auch nicht nur vorteilhaft.
Naja, man lässt sich darauf ein und bietet all seine Romantik auf. Ist zuvorkommend, hört aufmerksam zu, macht Komplimente, hält die Tür auf und bezahlt auch brav das Essen. Und kurz nachdem man sie zu Hause abgesetzt hat, kommt auch prompt die Auswertung des Dates via Whatsapp:

‚dankze für den sxhoenen abedn. ich mag dich, du buist so voll nett und so und man kann sich supr gut mit dir unterhaltne aber fuer mich ein wenig zu nett. ich suche gerade was anderes. mehr so einen richtigen kerl. weißt was ich meien? wuerde dixh aber gern als kumpel behalten! hdgdl xo xo‘

Als Kumpel behalten? Bin ich der große Kuscheleisbär von der Schießbude? Zwar der Hauptpreis, aber geschossen hat ein anderer?
Mein nächstes Date bekommt zur Begrüßung einen Leberhaken und dann wird sie an den Haaren in die nächstbeste Pommesbude gezerrt, wo sie für uns beide schön zwei Bockis kaufen kann. Und während ich ihr mit markantem Jever-Atem derbe Sauereien ins Ohr rülpse, wische ich mir mit ihrem Jackenärmel Senf von der Backe.
Ist es das? Soll so ein echter Kerl sein?

Wenn ein Hugh Jackman über die Mattscheibe turnt, dann schnurrt das Kätzchen.
Ist sich dabei aber nicht bewusst, dass der Typ neben ihr auf dem Sofa, der soeben seinen zweiten Eimer Chicken Wings verdrückt, viel eher ein Wolverine ist, als dieser backenbärtige Solingenmutant aus der Verblödungslampe. Oder glauben die Damen tatsächlich, dass Wolverine irgendwas mit Wölfen zu tun hat?

Ich glaube allerdings auch, dass es eigentlich gar nicht direkt um Hugh Jackman geht, sondern um diese Grundidee der Mutation.
Wenn aus dem hühnchenfressenden Couchkumpanen bei Bedarf ein verführerisch säuselnder Javier Bardem werden könnte, der sich auf dem Weg ins Schlafgemach in einen halbnackten Michael Fassbender verwandelt, um dann dem ungezogenen Fräulein als Jamie Dornan fachmännisch den Hintern zu versohlen, ja dann wäre es der Herzensdame wahrscheinlich sogar egal, wenn ihr Partner ansonsten aussieht wie neunzig Kilo Zwiebelmett im Pulli. So kann er ja ins Büro gehen. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass da mit einer eventuellen Sekretärin was läuft, auch eher gering.

Natürlich darf die Steuerung der Mutation nicht dem Mann überlassen werden. Am Besten wäre es sogar, wenn der Mann davon erstmal gar nichts mitbekommt. Es müsste so eine Art Fernbedienung für Frauen geben oder eine App fürs Smartphone, mit der die Frauen sich ihren Partner zurechtformen können. Oder nicht nur den eigenen Mann, sondern alle Männer, die der jeweiligen Dame in ihrer Originalform gerade nicht in den Kram passen. Wenn zum Beispiel der Taxifahrer eher ein Zwilling von Karl Dall ist, warum soll man sich denn nicht via App von Samy Naceri zum Date fahren lassen? Überhaupt, Blindates und alle ersten Dates wären viel einfacher. Da bekommt „50 erste Dates“ eine völlig neue Bedeutung.
So lange der Originaltyp ein wenig was im Kopf und etwas mehr im Portmonaie hat, kann man es als Frau schon aushalten.
Den Rest macht die App.
Der Sinn steht heute nach Romantik?
Leonardo DiCaprio macht auch für dich den Romeo.
Vielleicht am Nachmittag ein wenig gepflegter Tanz mit Richard Gere?
Darf ich bitten?

Nach ein paar Dates kann man sich dann sicherlich auch mal von Travoltas Lippen küssen lassen.
Der Metzger ähnelt zu sehr seinen Produkten?
Sicherlich schmeckt die Salami von Ashton Kutcher gleich doppelt so gut.
Und das Leben wäre schön.

„Und was machst du nun in der Sache?“ Anne schaut mich an und bläst blauen Rauch durch ihren Schmollmund.
Ich gehe ins Schlafzimmer und hole ihre Sachen.
„Du solltest jetzt gehen, Anne.“ sage ich und schiebe sie sanft wie der junge Sascha Hehn durch die Tür, während sie nach ihrem zweiten Schuh angelt.
„Man kann Menschen nicht einfach formen!“

Armes Ding.